Bild: Heilpraktikerin Misao Morota (4.v.li.) aus Düsseldorf bildete die Mitarbeiterinnen auf Land Gut Höhne in Yurashi aus.
Reinhard F. Spieß:
Das japanische Verb „yura“ bedeutet „sanft wiegen, sanft schaukeln (wie die Mutter ihren Säugling)“. In Japan wird am Boden oder auf einem kleinen Podest behandelt, in Europa benutzen wir für die Anwendung oder Behandlung Therapie- oder Massage-Liegen, wie sie allgemein bekannt sind. Mit behutsamen Berührungen und Bewegungen entspannt der Therapeut die Muskulatur des Gastes in einem Prozess, der etwa 35 – 40 Minuten dauert, und zwar so, dass diese muskuläre Entspannung auch das vegetative Nervensystem anspricht und dort parasympathische Reaktionen auslöst, die wiederum generalisieren. Das bedeutet, dass wir auch jene Teile der Muskulatur mit entspannen können, die sich nicht mit dem Willen beeinflussen lassen und die der Bewegung und Berührung von außen unzugänglich sind. Im Bereich der inneren Organe beispielsweise. Diese Entspannung wird als perfekt empfunden, weil der Gast dabei vollständig passiv bleiben kann.
Die Menschen, die Yurashi zum ersten Mal erleben, sind oft überrascht, mit wie wenig Kraft und Aufwand die Therapeuten eine so große Wirkung erzielen. Maximales Wohlfühlen durch minimale Intervention, so könnte man das zusammenfassen.
Reinhard F. Spieß:
Schmerz auf der Ebene des Körper und Stress auf der Ebene der Psyche haben eines gemeinsam: Die Muskulatur spannt mehr, länger und heftiger an, als es unter ‚normalen‘ Lebensumständen erforderlich wäre. Alles, was die Yurashi-Therapeuten tun, zielt zunächst darauf, die ganz natürlichen und nützlichen Abwehrreaktionen, die unser Gehirn zur Verfügung hat, wenn eine Fremdberührung stattfindet (durch Mitmensch, Arzt, Masseur etc.), zu unterlaufen. Ob es die sanfte Berührung und Bewegung, die gefühlvolle Dehnung oder die behutsamen Zug- und Rotationsimpulse sind: Die Ausschüttung des Botenstoffes Oxytocin verschafft ein körperliches Wohlgefühl und die Befreiung von Schmerzen in demselben Maße, wie auch eine seelische Entspannung eintritt. Das eine ist vom anderen nicht zu trennen. Die Polarität von Psyche und Soma (Seele und Körper) ist einer der Irrwege der westlichen Kultur- und (Medizin-)Geschichte. Diese Trennung wird in Yurashi aufgehoben.
Reinhard F. Spieß:
Yurashi ist ein naturheilkundliches Verfahren in dem Sinne, dass es die Jahrhunderte alte Tradition der Streichmassagen in der japanischen Volksheilkunst – fernab der universitären Medizin – fortsetzt, – und sie jedoch auch reflektierbar, lehr- und lernbar macht. Gleichwohl: In Tokyo hat sich Ende 2019 bereits die dritte Klinik an Koji Matsunaga gewandt und darum gebeten, er möge sich für Untersuchungsreihen und Langzeitstudien mit einer Vielzahl an Behandlungen und Patienten bereitfinden, bei denen vor und nach der Behandlung Laborparameter erhoben werden. Dies auf der Grundlage und unter dem Druck, dass die Heilungserfolge und die Rückmeldungen durch Patienten so überwältigend positiv waren, dass die wissenschaftliche Medizin nun ergründen möchte, warum Yurashi so erstaunlich vielfältig ‚funktioniert‘. Und die Ärzte und Forscher an den Kliniken werden es auf ihre Weise so exakt wie möglich beschreiben. Das wird ein paar Jahre dauern. Auch wir als Yurashi-Therapeuten freuen uns auf die Ergebnisse. Obwohl sie für unsere eigentliche Arbeit in Japan, in Deutschland und weltweit keine Bedeutung haben. Wir wissen aus der tagtäglichen Erfahrung, wie nachhaltig und wohltuend Yurashi auf den unterschiedlichsten Ebenen wirkt. Das Warum mag akademisch interessant sein. Für die Menschen, die Linderung, Entspannung, Heilung erfahren, ist der wissenschaftliche Diskurs nachrangig.
Reinhard F. Spieß:
Die Schulmedizin beschreibt Erkrankungen und forscht zu den Ursachen. Sie erprobt Therapien und entscheidet sich für die Etablierung derjenigen, die bei ökonomisch sinnvollem Aufwand den geringsten Schaden bei den betroffenen Patienten (also auch die größten Chancen auf Genesung bei der Mehrzahl) mit sich bringen. Das ist gut so. Aber: Wer heute auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft behandelt, der tut, was morgen als Fehler gebranntmarkt werden wird. So war, ist und bleibt das (vorerst) nun einmal in der Entwicklung der westlichen Medizin als Wissenschaft.
Eine naturheilkundliche Orientierung hingegen meint – im Kontrast dazu: Das anzuwenden, was seit Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden als wirkungsvoll tradiert worden ist. Bei vielem von dem, was da gut tut und heilt, ist die Wissenschaft noch nicht schlau genug, um exakt messen und beschreiben zu können, warum diese oder jene Therapie anschlägt.
Mich persönlich haben Koji Matsunaga und seine Yurashi-Therapie überzeugt, als er im Herbst 2012 in der Heilpraktikerschule Düsseldorf in drei Workshops chronisch kranken, ‚austherapierten‘, wirklich ‚schwierigen‘ Patienten vor den Augen eines Fachpublikums Linderung verschaffen konnte. Ohne großes Gehabe. Sehr bescheiden. Und er hat aus seiner Denkweise heraus schlüssig begründen können, warum diese Patienten zu ihrem eigenen Erstaunen so sehr von seiner Behandlung profitiert haben.
Die Verbindung von Bescheidenheit und Heilungserfolgen ist es, was Koji Matsunaga zu einer solch beeindruckenden Persönlichkeit macht. Ihm und uns und allen Patienten erscheint es – mit Verlaub – unwichtig, ob die medizinische Forschung die Wirkung von Yurashi schon mit ihren Parametern erklären und deshalb anerkennen kann. Mich persönlich hat Yurashi mehr beeindruckt als jede andere Behandlungsform, von der ich bis dahin gehört oder die ich jemals erlebt hatte.
Das Entscheidende jedoch in diesem Zusammenhang nun – zu guter Letzt: Der Schutz des Patienten ist die oberste Maxime der Therapie und jeder Yurashi-Anwendung. Die Therapeuten unterlassen immer und in jedem Fall alles, was bei den Behandelten – und zwar bei allen – auch nur im Geringsten ein Unwohlsein, eine Missempfindung, geschweige denn einen noch so kleinen Schmerz auslösen könnte. Sie ordnen alle ihre Interventionen am Körper den Reaktionen der Behandelten unter. Es gibt bei Yurashi keinen Griff, keine Berührung, die man ‚immer so und nicht anders‘ machen müsste. Eine solche Flexibilität, die die Sicherheit und die Unversehrtheit der Behandelten unter allen Umständen garantiert, ist der westlichen wissenschaftlichen Medizin völlig fremd. Sie erfordert als Grundhaltung der Therapeuten eine tiefe Demut vor der Einzigartigkeit eines jeden Menschen, eine Demut, der sich die Konzepte der Therapie unterzuordnen haben. Diese therapeutische Haltung der Demut ist darum auch der unverzichtbare Dreh- und Angelpunkt der Yurashi-Ausbildungen an der Heilpraktikerschule Düsseldorf.
Reinhard F. Spieß:
Richtig. Denn der Körper hat ein Gedächtnis, er vergisst nicht die positiven Erfahrungen mit der völligen Entspannung, die er unter Yurashi macht. Und unser Gehirn akzeptiert bereits nach einer einzigen Behandlung, dass ‚es auch anders geht‘. Weil die Korrektur von alltäglichen Bewegungsabläufen, die Yurashi anregt, unter dem Strich viele Dinge einfacher macht. Unser Körper weiß ja (das steckt schon in den Überlebensinstinkten) wie wichtig Entspannung – und nicht nur Ablenkung, das wird oft verwechselt – für eine gesunde Lebensführung ist. Und darum, so ist unsere Erfahrung, versteht der Körper auch schon die erste Yurashi-Anwendung als wichtigen Impuls für ein ‚besseres Leben‘.
Reinhard F. Spieß:
Das ist schon möglich. Ich nähere mich der Frage am besten von der anderen Seite.
Alle manuellen Therapeuten sind schon einmal Menschen begegnet, die eine mehr oder weniger große Scheu haben, aus welchem Grund auch immer, vor einer Behandlung Kleidungsstücke abzulegen. Bei Yurashi bitten wir die Menschen nur darum, ihre Schuhe auszuziehen, die Taschen zu leeren (O-Ton Koji Matsunaga: „Ich behandele keine Tempo-Taschentücher …“), Gürtel, Brille und Schmuckstücke abzulegen. Es ist in Yurashi- Weiterbildungen noch nie thematisiert worden, dass sich ein Patient darüber beklagt hätte, dass er seine Kleidung anbehalten durfte.
Reinhard F. Spieß:
Yurashi ist ein besonderes Erlebnis. Ganzheitlich. Einzigartig. So ein Erlebnis darf man sorgfältig vorbereiten, vor allem, weil das Gespräch dem Therapeuten die Möglichkeit gibt, individuelle Vorlieben, aber auch Bedürfnisse und Wünsche des Gastes zu erkunden. Und man sollte das gute Gefühl danach dann auch ruhig feiern ….
Reinhard F. Spieß:
Von Anfang an haben wir großen Wert gelegt auf eine qualitativ hochwertige Ausbildung in kleinen Schulungsgruppen. Alle Menschen, die in Deutschland mit Yurashi arbeiten, bilden sich regelmäßig fort und pflegen den kollegialen Erfahrungsaustausch. Unter ihnen finden sich engagierte Menschen aus allen therapeutischen Berufsgruppen, darunter auch eine Reihe von Ärztinnen und Ärzten. Ich sage eine stetige Verbreitung dieser Therapieform voraus. Der Schwerpunkt liegt im Moment noch in NRW, doch der Einzugsbereich erweitert sich von Jahr zu Jahr.
Bisher hat Koji Matsunaga fünf LehrtherapeutInnen in Deutschland autorisiert, den Grundkurs (Anwender) eigenverantwortlich zu unterrichten. Die erste – und erfahrenste – von ihnen ist Heilpraktikerin Misao Morota aus Düsseldorf, die auch die Mitarbeiterinnen im Land Gut Höhne in Yurashi ausgebildet hat.
HERZLICHEN DANK FÜR DAS GESPRÄCH:
Biographie: Reinhard F. Spieß ist selbst Heilpraktiker (Psych) und Schulleiter der Heilpraktikerschule Düsseldorf, die in diesem Jahr 2020 ihr 25. Jubiläum feiert. Sein besonderes Interesse gilt den Möglichkeiten, die Yurashi im psychotherapeutischen Setting bietet.
Auf sein Engagement geht die Etablierung und Verbreitung von Yurashi in Europa zurück. Er steht in direktem Kontakt zu Koji Matsunaga, dem Begründer von Yurashi, mit dem ihn mittlerweile auch eine herzliche Freundschaft verbindet.